Die unsichtbare Treppe

Hans war eigentlich total unsportlich, und doch machte er jeden Tag seinen persönlichen Hindernislauf. Sein ganzes Leben war ein einziger Hindernislauf. Die ersten Hürden bauten sich bereits vor seiner Geburt mächtig und scheinbar unüberwindbar vor ihm auf. Kurz vor seiner Niederkunft vernahm er im Kreißsaal einen Weckruf. Eine Stimme, die so klang, als wäre es Hape Kerkeling, rief aufgeregt: „Der Junge muss an die frische Luft“, und schwups landete der kleine Hänsel auch schon in den fangbereiten Armen der Hebamme.

 „Er ist nicht auf den Kopf gefallen“, konnte die Geburtshelferin der besorgten Mutter ausrichten, die jetzt in doppelter Hinsicht erleichtert war. Das aufgeweckte Hänschen guckte etwas verdutzt in den weißblauen Himmel und hatte bald schon seinen Kosenamen. „Hans guck in die Luft, dann kannst du nach den Sternen greifen“. Mit diesen gut gemeinten Worten wollte Hänschens Mutter seinen Lebensweg bestimmen.

Doch Hänschen klein stolperte jeden Morgen in den neuen Tag. Bevor er mit seinen wackeligen Füßen auf festen Boden stand, trat er in jedes Fettnäpfchen. Heute war es die Milchschale, die eigentlich als Katerfrühstück für seinen Freund Garfield gedacht war. Zwei giftgrüne Katzenaugen schauten ihn vorwurfsvoll an. Das anfängliche Schnurren von Garfield steigerte sich zu einem gefährlichen Knurren. Der sonst nur mit Faulheit gesegnete Kater entdeckte plötzlich seinen Jagdinstinkt. Er schlüpfte in Siebenmeilenstiefeln und flitzte als gestiefelter Kater mit zunehmender Geschwindigkeit über eine steil abfallende Wendeltreppe. Schneller als Wendelin, der bekannte Elefant aus Wim Thölkes Zeiten. Hänsel fühlte sich in die Enge getrieben. In seiner Kinderstube gab es keinen Fluchtweg. 

Er war gefangen im Labyrinth verloren gegangener Träume. Wie nur sollte er aus dem dunklen Verließ der Einsamkeit wieder herauskommen? Er dachte an Gretel, an Hänsel und Gretel, die verliefen sich einst im finsteren Wald. Aber die beiden gab es ja nur im Märchen. Plötzlich hörte er vertraute Stimmen, die ihm schon von Anbeginn seiner Zeit Mut machten. Es waren die selben Worte, und Hänschen klein erinnerte sich, wie alles begann. 

„Der Junge muss an die frische Luft, er ist nicht auf den Kopf gefallen. Hans! Guck in die Luft! Dann kannst du nach den Sternen greifen!“ Hänschen war zum Hans geworden, und er gönnte sich einen kräftigen Schluck aus diesem Motivationscocktail. Kater Garfield bekam nichts davon ab. Der staunte nicht schlecht über Hänschens Verwandlung. Gestern noch lähmte den kleinen Jungen die Angst, in ewiger Gefangenschaft zu bleiben, heute will der junge Mann mit kleinen Schritten vorwärts kommen, um morgen vielleicht größere Ziele zu erreichen. Die unsichtbare Treppe ist für den selbstbewußten Hans jetzt eine immer wieder neue Herausforderung und kein Hindernis mehr. 

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