Phantasiereise

Verwandlungskünstler wollte ich schon immer mal sein. In die Rolle eines anderen Wesens schlüpfen. Bei dem Gedanken, einmal im Leben auszubrechen, aus der fest eingeprägten Form, in die ich hineingeboren wurde, einmal aus dem engmaschigen Lebensgeflecht zu entfliehen, einmal hinter den Horizont zu blicken, der mich seit meiner Kindheit umgab, erlebte ich zum ersten mal ein bisher nie gekanntes Freiheitsgefühl.

In meiner Phantasie flog ich als Kohlrabe über den grau gefärbten Wolken meines Elternhauses hinaus zu den riesigen Weizenfeldern, um mir das wertvolle Saatgut wie die Rosinen zu meinem gekörnten Frühstück herauszupicken. Emma, die diebische Elster, war auch schon da. Vogelfrech saß sie auf einer menschenähnlichen Figur, die meiner Tante Olga zum verwechseln ähnlich sah. Sie war jetzt wohl nur noch als Vogelscheuche zu gebrauchen. Sollte ich mich mit Emma um das größte, um das leckerste Saatkorn zanken?

Onkel Egon, die männliche Vogelscheuche, hatte was dagegen. Er stand am anderen Ende des Feldes. Wie zwei giftige Schreckgespenste standen sich Olga und Egon gegenüber. Starrten sich feindselig aus ihren finsteren Augen an. Wie im richtigen Leben. Mir schien es so, als würden die beiden darüber streiten, wer hier wohl wen erschrecken sollte. Emma jedenfalls konnte darüber nur lachen. Ihr bereitete es ein köstliches Vergnügen, blitzschnell vor allen anderen gefiederten Kollegen die größtmöglichen Körner wegzuschnappen. Da konnten selbst zwei übergroße Vogelscheuchen wenig bis gar nichts dagegen ausrichten. Olga und Egon waren wohl viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Angsteinflößend waren die schon lange nicht mehr. Die pralle Mittagssonne knallte voll auf das kahle Haupt von Egon. War es ein Windstoß,der ihm seinen Strohhut vom Kopf riss? Nein, die diebische Elster Emma schnappte sich kurzerhand dieses uralte verstaubte Relikt, flog nun gut behütet davon, und beobachtete hoch oben auf dem Baumwipfel den Glatzkopf Egon, der nach einem kurzen Regenschauer dastand wie ein begossener Pudel. Ein wahrlich rabenschwarzer Tag für Onkel Egon, der selbst als Vogelscheuche keine gute Figur machte. 

Tante Olga, unserer weiblichen Vogelscheuche erging es nicht viel besser. Ihr hölzernes Gestell knarrte verdächtig laut, wie im richtigen Leben. Beim nächsten Windstoß könnte sie umkippen. Die freche Elster Emma wollte wenigstens das apfelgrüne Kopftuch retten, um damit ihr Vogelnest zu schmücken. Kaum setzte die Elster Emma zum Sturzflug an, krachte es auch schon gewaltig. Ein Blitz hatte Olga getroffen, sie fiel zu einem Häufchen Elend zusammen. Egon, der männliche Pedant schickte ein lautes Donnergrollen zu seiner ehemals angetrauten Olga, wie im richtigen Leben. Das waren wohl gegenseitige Schuldzuweisungen.

Petrus konnte dieses Gesäuse nicht mehr länger mit anhören. Er öffnete seine Schleusen, danach ergoss sich sintflutartiger Landregen über die riesigen Weizenfelder. Es war wirklich ein rabenschwarzer Tag. Aber nur für Vogelscheuchen. Amsel, Drossel, Fink und Star sangen ihre schönsten Lieder. Sie hatten allen Grund dazu. In den Pfützen,die sich zu großen Seen ausdehnten, konnten sie ein ausgiebiges Bad nehmen, inmitten von Millionen fruchtigen Saatkörnern, die der Regen extra für sie ausgeschwemmt hatte. Schimpfte der Bauer über die Missernte, so kam in der gefiederten Tierwelt Freude auf. Als Dank dafür, dass alle satt wurden, setzte sich die ganze Vogelschar auf den golden schimmernden Regenbogen, und sie zwitscherten die schönsten Melodien. So hatte ich auf meiner Phantasiereise immer eine musikalische Begleitung. Für einen Kohlraben gab es an diesem Tag nichts schöneres, als vom Regen in die Sonne zu fliegen. Emma, die diebische Elster, winkte freudestrahlend mit dem geklauten apfelgrünen Kopftuch von Tante Olga. Sie hatte den alten Hut von Onkel Egon festlich ausgeschmückt und prall gefüllt mit allerlei Köstlichkeiten. Die Elster Emma hatte sich in den obersten Baumkronen ihren eigenen Tante Emma Laden eingerichtet. Es fehlte an nichts. Und so kam es, dass ich mich spontan entschlossen habe, meine Phantasiereise bis zum Sankt Nimmerleins Tag zu verlängern.

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