Das Flüstern des Waldes
Richard blickte ehrfurchtsvoll nach oben. Über 125 Meter reckte sich der höchste Baum der Welt dem sonnendurchfluteten kalifornischen Himmel entgegen. Der 1,92 Zentimeter große breitschultrige Mann kam sich in diesem Augenblick ziemlich klein vor. Ein Erlebnis besonderer Art erwartete ihn und seine Familie. In der Forschungsstation im Yosemite Nationalpark sollte er den Bestand der ältesten noch erhaltenen Mammutriesenbäume kontrollieren und deren Befund in ein weltumspannendes Netzwerk einspeisen. Auf diese Weise sollte zwischen den urgewaltigen Gewächsen ein regelmäßiger Informationsaustausch stattfinden.
Zusammen mit seiner Frau Mary und den beiden Kindern Rick und Jim versuchte Richard sozusagen im Familienbund den mächtigen Stamm zu umfassen. Es war unmöglich: Nur einen Bruchteil seines überdimensionalen Umfangs konnten die vier Winzlinge umgreifen. Der kleine Rick fühlte sich in diesem Augenblick wohl als besonderer Stammhalter, aber es hätte wohl eine ganze Fußballmannschaft gebraucht, um diesen mächtigen Koloss voll umfänglich einzukreisen. „Stark wie ein Baum will ich werden, dann kann mir niemand mehr etwas anhaben“, rief sein Bruder Jim begeistert. Und auch ihre Mutter Mary war fasziniert von diesem außergewöhnlichen Moment: „Ein magischer Ort der Kraft ist das, hier sind Demut und Glückseligkeit eine wundersame Beziehung eingegangen. Hier ist es deutlich zu spüren, das Flüstern des Waldes.“
Richard meinte rückblickend: „Das war nicht immer so. Vor 4800 Jahren war dieser Baum ein kleiner Sämling. Er musste bei den Ureinwohnern Amerikas heftige Indianerkriege überstehen. Als Christopher Kolumbus zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat, war dieser Baum schon ein strammer Jüngling. Er ist wohl auch so weit in die Höhe gewachsen, um den vordringenden europäischen Siedlern zu entkommen. Viele seiner Artgenossen sind damals schon dem sogenannten amerikanischen Traum zum Opfer gefallen. Auch in dieser Zeit kannte die menschliche Gier keine Grenzen.“ Ziemlich abfällig, beinahe schon arrogant, meinte Söhnchen Rick: „Eigentlich ist das ja ganz schön langweilig, immer nur an einer Stelle zu stehen, wie soll man sich da weiter entwickeln?“
Jetzt musste Mutter Mary ihrem Sprössling doch mal gehörig die Meinung sagen: „Mein Junge, wenn dieser stattliche Baum erzählen könnte, was er schon alles erlebt und überlebt hat, dann würde ein dickes Buch nicht reichen, um alles darin nieder zu schreiben.“ Richard nickte zustimmend und gab seiner Familie gleich noch ergänzenden Geschichtsunterricht: „Die blutigen Schlachten im amerikanischen Bürgerkrieg waren kurze schmerzvolle Etappen im Leben dieses Baumes. Die Kämpfe zwischen den Nord- und Südstaaten des Landes, der unersättliche Goldrausch des weißen Mannes, all diese schrecklichen Ereignisse hinterließen tiefgehende Spuren im Leben der stattlichen Bäume. Ihr seht heute noch die äußeren Verletzungen, die sich durch die vielen Angriffe in der verharzten Rinde verewigt haben, aber ihre innerste Schatzkammer konnten sich diese Giganten bis heute bewahren.
Der kleine Jim fragte neugierig: „Wo ist denn die innerste Schatzkammer dieses Baumes? Was ist da drin, kann ich da auch mal hineinsehen?" Vater Richard erzählte amüsiert und doch auch belehrend weiter: „Jeder Baum hat seine eigene Schatzkammer, in ihr sind viele wertvolle Ringe. Es sind die Jahresringe.Der älteste Methusalem-Baum hier bringt es auf beinahe 5000 Jahresringe.“
Plötzlich fängt dieser alte Methusalem gefährlich an zu wanken. Seine Baumkrone neigt sich bedrohlich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Gerade so, als würde er mit der eigenen Baumfamilie Unheil bringende Botschaften auf höchster Ebene austauschen. Richard ahnt, was der knorrige Mammutbaum sagen will, es sind beunruhigende alarmierende Mitteilungen: Bisher konnte der in die Jahre gekommene alte Riese seine Selbstheilungskräfte immer wieder auf's Neue aktivieren. Es machte ihm nichts aus, wenn sich mal ein wild gewordener Grizzly Bär seinen juckenden Hintern an ihm wundrieb. Die Schaltzentrale im riesigen Wurzelwerk wurde jahrtausendelang mit genügend Wasser versorgt. Nun aber sind die Nährstoffleitungen beinahe ausgetrocknet. Er hat keine Kraft mehr, die lebenserhaltenden Infusionen bis in seine obersten Haarspitzen zu transportieren.
Mary meinte mitfühlend: „Deshalb ist der Waldboden mit rotbraunen, von der Sonne verbrannten Nadeln übersät." Die beiden Jungs stöhnten: „Hier ist es ja beinah schon so heiß wie im Death Valley, dem Tal des Todes.“ Die Familie machte sich zu Fuß zurück zur Forschungsstation. Dort starrten sie erschrocken auf den großen Monitor, der neueste globale Daten übermittelte. Es waren schockierende Nachrichten: Dicke Rauchschwaden machten sich über dem Regenwald breit. Die Feuersbrunst zog eine Spur der Verwüstung hinter sich her, meterhohe Flammen züngelten sich hoch bis in jeden Baumwipfel. Die räuberische brasilianische Holzmafia machte mit ihrer alles zerstörenden Brandrodung in einem atemberaubenden Tempo weiter, so dass vielen Tieren keine Fluchtmöglichkeit blieb. Jeder Hilferuf blieb ungehört. Viele Tiere lagen verdurstet am Boden oder verendeten qualvoll im Feuer.
Mary rief verzweifelt: „Wie nur kann man diesen mörderischen Wahnsinn stoppen?“ Auf diese Frage wusste auch Richard keine in seiner Macht stehende Antwort.Eine weitere Dringlichkeitsmeldung kam aus der indonesischen Forschungsstation: Dort verwandelte sich das Dschungelcamp für Tiere innerhalb kürzester Zeit in ein riesiges Plantagen-Feld mit schnell wachsenden Palmöl-Bäumen. Ein Orang-Utan Weibchen schaute verängstigt in die Kamera und in eine für sie ungewisse Zukunft. Dieser herzzerreißende Anblick brachte Mary zum Weinen, obwohl sie wusste, dass Tränen keine Wunden heilen. Richard versuchte zu trösten, aber auch ihm ging dieses Schreckensszenario ziemlich nahe. Beinahe schon resigniert schrieb er in seinen Abschlussbericht: „Die grüne Lunge der Welt, unser größtes Beatmungszentrum, ist in höchster Gefahr!“ In ihrer kindlichen Naivität fragten die beiden Jungs ihren Vater: „Papi, was passiert, wenn das Beatmungsgerät kaputt geht?“ Spontan und ehrlich antwortete Richard: „Dann wird das Flüstern des Waldes für immer verstummen.“