Onkel Tom's Hütte

Der antike Wandspiegel in Tante Paulas Schlafzimmer zeigte an diesem eiskalten Novembermorgen des Jahres 1890 ein seltsames Bild. Tante Paula erkannte sich darin selbst kaum wieder. Ein Anblick, der zum weinen war. Ihr ehemals blondes Haar aus längst vergangenen Jugendjahren, das sie immer zu lustig aussehenden schulterlangen Zöpfchen zusammenflechtete, war von einem eintönigem Grauschleier überzogen. Die zwei kecken Ohrläppchen, die sich einstmals leicht unter ihrer schönen Haarpracht verstecken konnten, waren im Alter von beinahe 70 Jahren ungeschützt der winterlichen Kälte ausgesetzt.

Paula sagte mit Galgenhumor: „Mir sind nur zwei geschrumpfte Walnusskerne geblieben.“ Ihre eingefallenen Augäpfel hatten nichts mehr gemein mit der schönen Erinnerung, als ihr Jugendfreund, der Thomas, sie als süsses Früchtchen mit himmelblauen Augen liebkoste. Diese Zeiten, eingerahmt in verblassten und vergilbten Bildern, waren für Paula unwiederbringlich vorbei. Ihre Lachfalten hatten sich in Kummerfalten umgewandelt. Zu lange schon war sie mit ihren Sorgen allein.

Was nur ist aus Thomas geworden? Sie sehnte sich so sehr nach ihm, weil das Feuer ihrer Liebe unauslöschbar schien. Schon als Kinder waren die zwei ziemlich beste Freunde, waren beinah unzertrennlich. Gemeinsam streiften sie im Wald umher, bauten mit eifriger Hingabe ihr eigenes Baumhaus und nannten es voller Stolz: „Onkel Toms Hütte“. Viele glückliche Stunden verbrachten die beiden in ihrem schicken Zuhause. Eines Tages aber kam ihnen der Nachbarsjunge, der Bartholomäus auf die Schliche. Der hatte auch schon des öfteren ein Auge auf die fesche Paula geworfen.

Hinterfotzig, wie er war, nutzte er die Gunst der Stunde, als der Thomas nicht zum verabredeten Treffen kam. Mit einer plumpen Art der Verführung wollte er die Paula beeindrucken. „Ich werd dir zeigen, wo der Bartl an Most holt“ meinte er ungestüm „Und den Thomas, den kannst dir abschminken, der ist mit seinen Eltern abg`haut nach Amerika“ Die zutiefst getroffene Paula konnte das nicht glauben, und doch hatte der Bartl ausnahmsweise mal nicht gelogen. Wie so viele arme Familien in dieser schwierigen Zeit waren auch die Eltern von Thomas dem Ruf der Freiheit in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gefolgt. Die Auswanderungsbehörde hatte viel zu tun in diesen Tagen.

Das Gedränge, noch einen Platz auf den überfüllten Schiffen zu bekommen, war so groß, dass Paula keine Chance mehr hatte, sich von ihrem Thomas zu verabschieden. Und er brachte es nicht übers Herz, der Paula reinen Wein einzuschenken, obwohl sie merkte, dass ihn etwas sehr bedrückte. Der unverschämte Bartl machte sich einen Jux daraus, und es freute ihn diebisch, dass er nun die Paula ganz allein für sich hätte. Zumindest bildete er sich das ein, obwohl er ansonsten ziemlich ungebildet war. „I würd di scho gern als Hochzeiterin haben und de Arbeit geht bei mir auf`m Hof bestimmt ned aus.“

Dieser Heiratsantrag konnte so wohl nur von einem „Wuidling“ wie dem Bartl kommen. Und doch gab sie ihm in einer schwachen Stunde in seinem großen Mostkeller nach einigen Stamperln Schnaps das ersehnte „Ja“ Wort. "A gmachte Bäuerin braucht hald auch a gmacht`s Nest", dachte sie sich anfangs. Aber sie merkte bald, wie der Bauer wirklich gestrickt war. Am Hochzeitsmorgen meinte er, sie müsste die Rösser schon selbst vor die Kutschn spanna, damit`s no rechtzeitig zum Pfarrer in die Kirch kommen, er hätt`s ja so im Kreuz. „Des fängt ja schon guad an“, dachte sich die Paula nach dem göttlichen Segen. In der Hochzeitsnacht sagte sie es dem Bartl in aller Deutlichkeit: „I glaub, mia zwoa wean ned miteinand oid wean.“

Und sie sollte recht behalten. Nach zwei Monaten und acht halbe Bier hat der Bartl das Zeitliche gesegnet. Dieser Abschied fiel der Paula bei weitem nicht so schwer, wie seinerzeit die Trennung vom Thomas. Das Andenken an den Bartl war eigentlich nur noch die rote Schnapsnasn, die ihr beim Blick in den Spiegel auch gar nicht mehr gefiel. „I bräuchat dringend eine Rundumerneuerung, eine Frischzellenkur. I bin wirklich renovierungsbedürftig“, redete sie sich in ihren Selbstgesprächen zu. Genau so, wie der Hof vom Bartl, der sah auch fast schon erbarmungswürdig heruntergewirtschaftet aus. Selbst der Taubenstadl war ziemlich verdreckt. „Der Lump hat sich ratz fatz aus`m Staub gmacht, hat mich so einfach allein glassn“, jammerte die alte Tante Paula an diesem eiskalten Novembermorgen. Obwohl man bei so einem Sauwetter keinen Hund vor die Tür jagt, musste die Paula raus zu den kleinen Viecherln. Sie hatte ein Herz für Tiere und glaubte zudem an Wunder.

So geschah es, dass über dem Bartlhof eine fremde Taube angeflogen kam, um ausgerechnet hier Rast zu machen. „Ja, wo kommst denn du her?“, wollte die Paula das zugeflogene Vogerl fragen. Sie wusste gleich: Diese fremde Taube brachte irgend etwas heimeliges mit. Das Tierchen war bestimmt nicht nur über den kleinen Dinghartinger Weiher geflogen, eher schon über den ganz großen Teich. An ihrem Gefieder war eine geheime Botschaft befestigt. Eine Briefbotschaft. „Einladung in Onkel Tom`s Hütte“.

Tante Paula wusste nicht, wie ihr geschah: War es ein Traum oder Wirklichkeit? Die wenigen Worte gaben ihr schnell Gewissheit: Thomas hatte sich zurück gemeldet. Aus dem fernen Kalifornien. Er führte dort seit Jahren erfolgreich eine Frischzellenkurklinik. Was ihm fehlte, war eine liebenswerte Frau. Eine Frau wie Paula. Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben, sie noch einmal wiederzusehen. Onkel Tom`s Hütte wartete auf Paula. Jetzt brauchte es keine lange Überlegung mehr. Paula konnte Hals über Kopf den ungeliebten Bartlhof verlassen und sich auf die große Reise begeben. Sie erfüllte sich damit ihren schönsten Weihnachtswunsch. 

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