Momentensammler
Nichts im Leben von Hans Ignaz Vitus deutete auf irgend eine, noch so winzig kleine Veränderung hin. Der stetig gleiche Tagesablauf begann wie so viele unzählige Tage vorher. Stunden, Minuten, Sekunden, quälende Zeitintervalle, die sich zu einem Bündel verzweifelter Momente summierten. Kaum wahrnehmbar hörte er das leise Ticken der Wanduhr, die auf der Palliativstation der barmherzigen Brüder wohl nur das Fortschreiten seiner unheilbaren Krankheit signalisierte. Daneben zerfloss das Bild vom weinenden Engel in einem Tränenmeer. Die untergehende Sonne am Horizont verschwand beängstigend schnell im pechschwarzen Dunkel der hereinbrechenden Nacht. Sollte Hans Ignatz Vitus seine Seelenwanderung in dieser Finsternis antreten? Konnte es für ihn überhaupt ein neues Morgen geben. Er hatte viel zu viel Zeit, darüber nachzudenken. Bald schon fiel er in einen Dämmerschlaf, in dem er sich zum tausendsten mal fragte, wie diese verfluchte Krankheit seinen stolzen Namen dermaßen verschandeln konnte. Bisher standen diese drei Vornamen für traditionelle bayrische Bodenständigkeit. Hans Ignatz Vitus dachte nie im Traum daran, dass seine Initialen genau so geschrieben werden, wie die erschreckende ärztliche Diagnose, die er vor nunmehr bald schon drei Monaten vom Chefarzt höchstpersönlich serviert bekam. In dem Befund stand es schwarz auf weiß:
HIV positiv. Hans Ignaz Vitus und Aids, das passte ungefähr so zusammen, wie Sauerkraut und Schlagsahne. „Da hat mir das Schicksal wohl einen makaberen Scherz gespielt“, dachte er sich nach seiner ersten Schockstarre. Aber das Schicksal wollte wohl ein letztes mal seine Leidensfähigkeit prüfen, war gerade dabei, sein Leben auf der Überholspur im Schnelldurchlauf zu präsentieren.
Hans Ignaz träumte von seiner Kindheit. Er fand sich auf dem Dachboden von seinem Elternhaus wieder. Vor langer Zeit war hier sein Abenteuerspielplatz. Aus Langeweile kramte er in einer uralten Mottenkiste herum. Alles, was er drin entdeckte, war ein Spiegel. Er wurde neugierig. War es etwa ein Zauberspiegel? In großer Leuchtschrift stand darauf das ominöse Wort „NEBEL“. Ganz vorsichtig drehte der kleine Junge den Spiegel herum, betrachtete ihn von allen Seiten. Plötzlich wandelte sich das Wort „NEBEL“ in das Wort „LEBEN“ um. Von diesem Augenblick an war es für Hans Ignaz Vitus klar: Er wolllte LEBEN, LEBEN, LEBEN!! So wie damals krallte sich Hans Ignaz Vitus auch jetzt mit aller Kraft an diesem Gedanken fest. Mit aller Kraft,die ihm noch zur Verfügung stand, die ihm der heimtückische Virus noch nicht geraubt hatte. Wie ein Bergsteiger, der noch viele Gipfel des Lebens bezwingen will. Er wollte nicht abstürzen in die Leere der Bedeutunglosigkeit. In diesem Augenblick war für Hans Ignaz Vitus eine erste Veränderung spürbar. Gegen Mitternacht öffnete der Windstoß ein kleines Fenster. War es das Fenster zur Hoffnung?
Der Mond lugte mit seinem fahlen Lichtschein durch die zugezogenen Vorhänge, gerade so, als wolle er dem Patienten eine Gardinenpredigt halten, als wolle er sagen, Hans Ignaz Vitus solle sich endlich aufmachen, auf die lange Reise in die Ewigkeit. Am nächsten Morgen war nichts mehr so, wie es noch gestern schien. Eine handgeschriebene Notiz lag neben dem Bett von Hans Ignaz Vitus. Es war eine Wegbeschreibung, wie sie erfahrene Bergsteiger immer bei sich haben. Der Patient sollte eine neue Tagesetappe planen.
Nicht bis zur Himmelspforte, wohl aber ein Stück weit aus der schmerzvollen Vergangenheit über die Schwelle der Gegenwart hin zu einer Genesung versprechenden Zukunft. Wer nur hatte diesen Brief geschrieben? Der weinende Engel konnte es nicht sein. All die himmlischen Herrschaften hatten einen etwas abgehobenen Schreibstil.
Hans Ignaz Vitus aber wollte nichts anderes, als seine bayrische Bodenständigkeit bewahren, wollte mit kleinen Schritten zu seiner ursprünglichen Stärke zurückfinden. Er kam auf die Idee ein Tagebuch mit all seinen gelebten Empfindungen, all seinen gelebten Erfahrungen zu schreiben. Auf den Seiten füllenden Erzählungen fand er immer mehr Glücksmomente, die sein Leben bereicherten. Als der Chefarzt ihm bei der täglichen Visite etwas verwundert mitteilte, das Aids Virus wäre nicht mehr nachzuweisen, musste die Zielsetzung von Hans Ignaz Vitus eine gänzlich andere werden. „KEINE ZEIT ZUM STERBEN“ lautete der Titel von seinem ersten Buch, das zum Bestseller avancierte.