Die Rabenmoosalm
Es deutete nichts, absolut gar nichts auf dieses außergewöhnliche, unmittelbar bevorstehende Ereignis hin. Alles war so wie immer, an dem total normal beginnenden Tag. Die aufgehende Sonne lugte beinahe etwas verschämt durch die Baumwipfel im Chiemgauer Bergwald. Der Zinnkopf reckte mit eiserner Disziplin, ähnlich dem Charm eines bayrischen Zinnsoldaten, sein Haupt in den weißblauen Himmel. Die abnehmende Sichel des Mondes versenkte sich ehrfürchtig hinter dem Zeller Bergrücken, und letzte Nebelschwaden der vergangenen Nacht lösten sich in Wohlgefallen auf.
Die perfekte Inszenierung zu dem allmorgendlich stattfindenden Chiemgauer Naturschauspiel konnte beginnen. Der moosbedeckte Waldboden begann leise zu vibrieren. Das surren der Waldbienen war der dazu passende Auftakt. Eichelhäher, Tannenhäher und Fichtenkreuzschnabel bildeten den tierisch guten Chiemgauer Dreig’sang und trällerten in fröhlicher Gemeinsamkeit ihre genauest einstudierten Vogellieder. Der Buntspecht fügte sich mit seinen rhythmischen Schlägen harmonisch melodiös in dieses wohlklingende Chiemgauer Vogelsinfonieorchester ein.
Der Ziegenpeter und der Schafspauli freuten sich. Als bedienstete im Ruhpoldinger Freizeit und Märchenpark hatten die zwei Hirtenbuben eine ehrenvolle Aufgabe zugewiesen bekommen. Nein, sie sollten nicht etwa Dornröschen wachküssen. Die Märchenprinzessin wäre bei der etwas eigenartigen Mund zu Mundbeatmung wohl doch gleich wieder in Ohnmacht gefallen. Die wissbegierigen Rabauken sollten eine Wanderung zur sagenumwobenen Rabenmoosalm machen, um die weltbewegende Frage zu klären: Wie nur war diese idyllisch gelegene Alm zu dem tierisch komischen Namen gekommen? Waren es Rabeneltern, die ihre frisch geschlüpften Rabenkinder alleine auf der Alm zurückließen, um nicht ständig das nervige Gekrächze anhören zu müssen? War es Jakob, der kleine Rabbiner, der aus dem fernen Nahen Osten gen Westen zog, die Klagemauer mit der Kampenwand verwechselte und nun seit urchristlichen Zeiten seine Gebete und Botschaften bis heute in den weissblauen Himmel schickt, ohne dabei die göttliche Eingebung zu bekommen? Auf der Suche nach geeigneten Antworten begann sich das Gedankenkarussell der bajuwarischen Gipfelstürmer immer schneller zu drehen. Schwindelig vor immer neuen Phantastereien, vor immer mehr oder weniger glaubwürdigen Geschichten machten sie Rast an einer leise dahinplätschernden Quelle. An dieser klaren und reinen Inspirationsquelle konnten sie ihren kindlichen, unerschöpflichen Wissensdurst löschen, und voller Tatendrang den Weg weitergehen, hin zu dem almerisch verwunschenen ehemaligen Forsthaus. „Ob hier schon mal Hänsel und Gretel übernachtet haben?“ fragte der Ziegenpeter den Schafspauli. Die zwei Buben wurden seit ihrer frühesten Kindheit so genannt, weil sie die meiste Zeit mit ihren vierbeinigen Freunden verbrachten. Es war ihnen egal, wenn die Nachbarskinder ihre Nase darüber rümpften. Schade nur, dass ihnen die berühmt gewordene Heidi nie begegnet ist. Sie hätte sich bestimmt auch im Chiemgauer Land sehr wohl gefühlt. „Wer weiß, vielleicht steht sie ja schon in der Küche und heizt den Pizza Ofen an.“ meinte Peter, dann rief der Schafspauli erfreut: „Da schau mal, es steigt schon weißer Rauch auf.“ Der christlich erzogene Ziegenpeter meinte achselzuckend und etwas ratlos: Die nächste Papstwahl kann es nicht sein. Unser Benedikt ist den Weg vorausgegangen, der Franzl, besser bekannt als Franziskus wird ihm jetzt nicht folgen. Der muß erst unsere katholische Kirche reformieren. Das kann dauern. „Lass uns hier einkehren, an dem Ort, wo die Gedanken fließen, wie das Wasser, das hier so fröhlich dahinplätschert. Der weiße Rauch wurde dichter und dichter, gleichzeitig drang ein unwiderstehlicher Duft in die aufnahmebereiten Nasen von Peter und Paul. „Wir sind angekommen“ jubelten die beiden jetzt doch schon sehr hungrigen Jungs. „Es riecht nach Pizza“ riefen sie erfreut. Sämtliche Geschmacksnerven aktiviert hatten aber auch rabenschwarze Gesellen, die bedrohlich wie ein Kampfgeschwader hoch oben am Himmel ihre Kreise zogen, um dann urplötzlich in einem günstigen Augenblick zum Beuteflug ansetzten. Inszeniert wie in dem bekannten Alfred Hitchcock Thriller: „Die Vögel“.
Über diese Plagegeister ärgerten sich auch schon sagehafte Gestalten, wie der Wurzl Sepp und die Wipferl Maria. Vom gleichen Stammbaum, oder besser gesagt: Baumstamm, waren sie seit jeher auf Gedeih und Verderb jeglichen Gefahren im Chiemgauer Bergwald ausgesetzt. Während der knorrige Wurzlsepp mit emsigem Bemühen versuchte, die stetig nach höherem strebende Wipferl Maria mit frischem Bergquellwasser zu versorgen, schimpfte das im baumstämmigen Familienverbund hoch oben thronende „Marei“ unablässig in boshafter und hochnäsiger Manier. „Was siehst du denn da oben?“ wollte der Wurzlsepp an diesem schönen, sonnigen Morgen von der Wipferl Maria wissen. „Außer einigen als Buchfinken getarnte Chiemgau Autoren sehe ich gar nichts“ schmetterte die Maria dem Josef diese gehässigen Worte entgegen. Geschwisterliebe sieht anders aus. „Im Gegensatz zu dir werde ich ständig vollgekackt von einer immer größer werdenden Krähenbrut“ wütete sie weiter.
Das müssen irgendwelche Rabeneltern wohl gehört haben. Wie von einer künstlichen Intelligenz gesteuert, befahl der Oberrabbi seiner vogelwilden Familie: „Benehmt euch gefälligst! Es gibt heute auf der nach uns benannten Rabenmoosalm noch einiges zu sehen und vor allem zu hören.“ „Was sollen wir denn bitte zu hören bekommen?“ meuterte der gerade flügge gewordene Rabenjunge. „Wir saßen hier schon viel zu lange in unserem eigenen Dreck, haben noch nicht mal eine arme Kirchenmaus erbeutet. Und überhaupt, das weiß ja mittlerweile jeder klauende Rabe: Ohne Moos nix los.“ Da kam dem Rabenvater die zündende Idee: „Sammelt alles Moos der Welt, zumindest das reichlich vorhandene Bergener Moos. Damit polstert ihr euch selbst die besten Sitzplätze für das bereits anfangs erwähnte außergewöhnliche und unmittelbar bevorstehende Ereignis.“ „Und was bitte soll dieses außergewöhnliche unmittelbar bevorstehende Ereignis sein?“ fragten die Rabenjungs nun auch den Ziegenpeter und den Schafspauli. Die schauten hilfesuchend zum Oberrabbiner. Der machte einen kurzen, aber für alle anwesenden verständlichen Hinweis: „Es ist die Lesung der Chiemgau Autoren. Ein Feuerwerk der Pointen erwartet alle Besucher der Rabenmoosalm an diesem historischen Tag. Geschichten, die das Leben schreibt, gewürzt mit rabenschwarzem Humor, geladen mit heißer Spannung am Lagerfeuer, geschrieben mit viel Liebe.“ Erzählungen der Chiemgau Autoren verdienen unser aller Aufmerksamkeit. Lasst uns gemeinsam lauschen“. Es kam, wie es kommen musste: Sonnendurchflutete Wörter tauchten im beständigen Wechselrhythmus ein, in vom niederprasselnden Regen reingewaschenen Textpassagen. Vom Donner aufgerüttelte Gefühle, von grellen, elektrisierenden Blitzen begleitet, erzeugten einen geradezu mystisch anmutenden Mix. Den abschließenden Erinnerungscocktail konnten alle anwesenden Gäste in den Gemächern der Rabenmoosalm genießen. Nach dem Spektakulum waren sie glückselig. Bekamen doch alle Teilnehmer am Schreibseminar neben Pizza und Würstl auch genug geistige Nahrung mit auf ihren weiteren Lebensweg. Der Ziegenpeter und der Schafspauli haben es versprochen: Sie werden bestimmt kommen, wenn es im nächsten Jahr wieder heißt: „Aufgeht’s zum Schreibseminar auf der Rabenmoosalm“.